Der Amputierten-Fußball in Deutschland
Mit einem Bein mitten im Leben stehen und Fußball spielen
In ganz Deutschland? Naja, fast: Als sich in diesem Sommer viele über die “fußballfreie” Sommerpause beschwerten, schaute ich die Frauen-Fußballweltmeisterschaft und ließ mich von Megan Rapinoe und Wendi Rénard beeindrucken, verpasste keine Minute der deutschen U21 auf dem Weg ins Finale und ab dem Halbfinale stellte ich mir sogar den Wecker für die Copa America. Ich würde behaupten, (viel zu) viel Sport, besonders Fußball zu schauen und deswegen auch die meisten (medial relevanten) Sportarten zu kennen und mehr oder weniger auch zu verfolgen. Doch Amputierten-Fußball? Im Wintersport und der Leichtathletik sind Wettkämpfe und große Turniere für Menschen mit Behinderung selbstverständlich und medial präsent. Global organisiert vom Internationalen Olympischen Sportbund (national der DOSB) bzw. dem Paralympischen Sportbund sammeln Anna Schaffelhuber auf Skiern und Niko Kappel mit der Eisenkugel bei den Paralympics Medaillen en masse für ihr Land.
Bei alldem habe ich Fußball für Menschen mit Amputation für selbstverständlich gehalten, in erster Linie, weil ich dachte, dass sie am paralympischen Fußballturnier teilnehmen – eine Fehleinschätzung. Bei den vierjährlichen Paralympics findet zwar jeweils ein Turnier im Blindenfußball und ein 7er Turnier mit Behinderungen der Klassifizierungen von C5 bis C8 statt, die jedoch lediglich Störungen des Bewegungsablaufs, allerdings keine Amputationen mit einschließen – Amputierten Fußball ist nämlich gar nicht paralympisch. Die Regeln sind verschieden. Die Mannschaftsgröße ist die gleiche wie beim Paralympischen Turnier. Aber der Amputierten-Fußball wird mit Metallkrücken auf einem 51mx31m großem Feld mit Kleinfeldtoren gespielt. Es gibt kein Abseits und willkürliches Spiel mit der Krücke wird als Handspiel gewertet. Die Teams sind Geschlechter übergreifend zusammengestellt („es gibt genügend Vorurteile gegenüber Amputierten; man sollte sich nicht gegenseitig diskriminieren“, steht es in den Regeln auf der Website). Den Feldspielern muss ein Bein fehlen oder ein extrem verkürztes haben (Dysmelie); dem Torhüter muss ein Arm fehlen, weil er aber ein Zweibeiner ist, darf er den Strafraum nicht verlassen. Das 7er-Fußballturnier 2016 in Rio gewann übrigens die Ukraine (die Ukraine ist sogar Rekordsieger) vor dem Iran und Brasilien – bis auf Brasilien gewiss keine Global Player im Fußballuniversum. Und Deutschland? Der viermalige Welt- und dreimalige Europameister, zusammen mit England vermutlich der Verband mit den professionellsten Vereinsstrukturen und höchsten Vereinsdichte stellte nicht einmal ein Team. Das Turnier findet seit 1984 alle vier Jahre im Rahmen der Paralympics statt, Deutschland holte nicht eine Medaille (wie auch, wenn man nicht teilnimmt). Woran liegt’s?
Der DFB: “Deutschland als Entwicklungsland” in Sachen Amputierten-Fußball
Auf Krücken ist die deutsche Bilanz noch schlechter. Der Amputierten-Fußball ist in Deutschland selbst als Para-Sportart unterrepräsentiert. Der DFB zählt auf der eigenen Website zwanzig aktive Sportler. Das würde nicht einmal den aktuellen Kader von Borussia Dortmund füllen, in dem 34 Spieler unter Vertrag stehen. Der DFB selbst bezeichnet Deutschland als “Entwicklungsland” in dieser Sportart. Seit 2009 haben sich mit Hoffenheim als Vorreiter und Zentrum sowie Braunschweig und Ludwigsburg erst drei Standorte für Amputierten Fußball herausgebildet. Kein Wunder, dass der DFB den 13. Platz der Amputierten Nationalmannschaft bei der WM in Mexiko 2014 mit “beachtlich” kategorisiert – setzt man diese Bewertung in Relation mit dem Abschneiden der Mannschaft um Müller, Kroos und Neuer, die 2018 in Russland beachtlich scheiterte, dann bekommt man eine Vorstellung von der Präsenz und Bedeutung dieser Sportart im DFB-Kosmos. Das aktuellste Beispiel auf der hauseigenen Website des DFB firmiert unter dem geschichtsträchtigen Titel „der Geist von Malente“. Mit Unterstützung der deutschen Nationalmannschaft und der Egidius-Braun-Stiftung finanzierten Aktion „Kinderträume“ trugen die „Ampukids“ ein Turnier gemeinsam mit den Eltern aus. Das war allerdings 2015, was den historisch verstaubten Verweis auf den während und nach der gewonnen WM 1954 oft beschworenen „Geist von Spiez“ beinahe einen sarkastischen Anstrich verpasst. Mal abgesehen davon, dass es sich dabei um eine private Nationalmannschaft handelt, die nicht unter das riesige Dach des DFBs gehört, geschweige denn einen gemeinnützigen Status besitzt und somit von öffentlichen Fördergeldern ausgeschlossen ist. Die Nationalmannschaft gründete sich 2009 auf Initiative einiger Menschen mit Amputationen, die sich mit dem Ziel, an der Weltmeisterschaft in Mexiko 2014 teilzunehmen, zusammenschlossen. Die Reise und Ausrüstung konnten sie erst über eigene Sponsorensuche finanzieren. In dieser Nationalmannschaft spielt Christian Heintz. Er ist Kapitän einer Mannschaft, deren Nominierung – so hart es klingt – an einen schweren Schicksalsschlag gebunden ist. Bei Christian war es ein selbst verschuldeter Autounfall, wie er selbst sagt. Nationaltorwart César Leszinski verliert mit zehn Jahren in Angola seinen rechten Arm, weil er auf einen Strommasten klettert. Aber auch Krankheiten leisten ihren Beitrag zu der Nationalmannschaft. Bei anderen etwas zu viel Wodka und eine Gleisüberquerung, Pierre Kaiser hat sich ein Logo mit “DB” auf den Stumpf des rechten Oberschenkels tätowieren lassen und symbolisiert damit den Grundtenor in der Mannschaft: mit einer durchaus selbstironischen Tragikomik zurück, dafür hoffnungsvoll nach vorne blicken. Noch im Krankenhaus fanden Christians Eltern einen Flyer für Amputierten Fußball, da musste ihr Sohn nicht lange überlegen. 2016 sendete Sky Sport eine Dokumentation über “Die ganz andere Nationalmannschaft” im “Hochleistungssport” Amputierten-Fußball. Den medial kompliziertesten Job in dem Team hat vielleicht der Trainer Claus Bender, “Normalo und Zweibeiner”, wie er sich in der Doku selbst nennt. “Meine Aufgabe als Trainer, zu sagen: n Fallrückzieher mit zwei Krügge und mit einem Bein und desch Ding isch rein: alles gut”, schwäbelt er und erinnert dabei phonetisch an einen anderen Bundestrainer. Högschde Dischiplin ist auf jeden Fall auch im Amputierten Fußball gefragt – wenn nicht noch mehr.
Anpfiff fürs Leben und für Hoffenheim
Mit der erfolgreichen Teilnahme an der WM wurde dann nicht etwa der DFB, der diesen Erfolg ja noch heute auf seiner Website bewirbt, auf die Amputierten Nationalmannschaft aufmerksam. Stattdessen kam die Initiative „Anpfiff ins Leben“ auf die Mannschaft zu. 2001 von Dietmar Hopp ins Leben gerufen, hat der Verein sich eine 360°-Förderung für Jugendliche auf die Fahnen geschrieben. Ziel ist es, die jugendlichen Fußballer auch in den anderen wichtigen Lebensbereichen durch entsprechende Förderkonzepte zu unterstützen; in der Schule, im Beruf sowie im Sozialen. Und seit 2014 darf die Nationalmannschaft auf dem Gelände in Walldorf trainieren und übernachten. Hier treffen sich die zwanzig aktiven und bundesweit verteilten Fußballer für ein Wochenende im Monat und trainieren gemeinsam. An den anderen Tagen und Wochenenden müssen sie allerdings in Eigenregie ihr Training in den Alltag einbauen. Ein Jahr später entstand der erste Amputierten Fußball Verein, Anpfiff Hoffenheim, der auch eine Mannschaft im Sitzvolleyball stellt. Die SF Braunschweig gibt es schon seit 2012, seit 2015 sind sie der zweite Standort für Amputierten Fußball in Deutschland. Dieser zweite Standort in der nördlichen Republik ist wichtig für alle, die bisher einmal monatlich ins württembergische Walldorf runterfahren mussten.
Das Fußballkerngeschäft auch auf einem Bein: Dribbling und Grätsche
Vergangenes Wochenende aber lohnte sich die Reise aus dem Umkreis von Braunschweig nach Walldorf (das nicht nur geographisch nah an der Hopps TSG aus Hoffenheim liegt) doppelt. Vom 16. bis 21. Juli fand dort das EAFF Junior Camp statt. 75 Teilnehmer aus 12 Nationen hatten die Chance während der vier Tage ausgiebig zusammen zu trainieren und sich auszutauschen. Zusätzliche Begeisterung bei den Kindern verursachte ein am Freitag vorgestelltes Stickeralbum von den Stickerstars aus Berlin. In den Sammelpacks waren nicht die Stars und Großverdiener der Fußballbranche, sondern sie selbst. Christian Heintz war als einer der Verantwortlichen dort. Denn er trägt nicht nur das Kapitänsamt der Nationalmannschaft, er leitet bei Anpfiff ins Leben auch das auf fünf Jahre ausgelegte Modellprojekt „Amputierten-Fußball im Verein: Mittendrin statt nur am Rand“ in Kooperation mit der Aktion Mensch Stiftung. Das Camp und das Stickeralbum sind auch der Grund, aus dem ich mich das erste Mal bewusst mit Amputierten Fußball befasse. Christian ist bei der gemeinsamen Aktion unser Ansprechpartner am Standort Walldorf. Am Telefon sagt er mir, dass die Kids im positivsten Sinn schon genervt hätten, um an die Alben und Sticker zu kommen und fragt direkt, ob wir noch nachliefern könnten.
…oder mit einem Arm
Inklusion für Zweibeiner
In dem Gespräch versorgt er mich mit weiteren Informationen, die meine Online Recherche nicht hergaben und ich spreche ihn auch auf einen weiteren Passus in den Regeln für Amputierten Fußball an: „Und eigentlich auch egal, ob Dir ein Körperteil fehlt oder Du inklusiv als Zweibeiner nach den Regeln des Amputierten Fußballs spielen willst“, steht auf der Website. Wollen wir bei Stickerstars! Inklusion mal umgekehrt. Aber, weil ich mir unsicher bin, frage ich nochmal nach. „Absolut. Finden wir prima, wenn ihr das ausprobiert”, antwortet Christian. Auf dem Gelände unseres Bürogebäudes liegt auch ein kleiner Soccer-Platz, Asphaltboden, Eisentore und hohes Gitter an den Seiten. Auf dem Weg dorthin tauschen wir das einzige Paar Krücken bereits und versuchen uns an Dribblings, Pässen und Schüssen. Rabonas und Tunnel funktionieren kaum. Es geht auf die Arme. Auf dem Platz angekommen entscheiden wir uns für den Archetypen der Bolzplatzspiele. Das Lattenschießen: jeder hat fünf Versuche direkt hintereinander – dann abwechselnd jeder einen Schuss, falls wir bei den ersten fünf Versuchen scheitern sollten. So ist es dann auch. 25 Schüsse mit unterschiedlichsten Techniken (aus Gewohnheit nehme ich zum Beispiel vor jedem Schuss Anlauf, nur um dann vor dem Ball stehenzubleiben und mein Gleichgewicht zu suchen), von denen keiner seine Flugbahn an die eiserne Waagerechte findet. Dann aber folgt das notwendig gewordene Sudden Death. Und unser Fabi trifft beim ersten Schuss – Ende. Fabi gewinnt und der Rest ist enttäuscht, nicht mehr schießen zu können, doch auch glücklich im Anschluss kein zweites Paar Krücken benötigen zu müssen.
Die Hoffnung auf ein Ligensystem
Am 23. Juli verkündete die Fortuna aus Düsseldorf als nun dritter Standort in Deutschland den Amputierten Fußball zu unterstützen. Vier Tage später fand die erste Trainingseinheit statt. Der Weg dorthin ging über das Projekt von Christian Heintz mit DFB-Unterstützung durch die Sepp-Herberger Stiftung und die Landesverbände. Die Fußballer mit Amputation aus der Umgebung haben jetzt die Möglichkeit auf dem Gelände des Bundesligisten zu trainieren und müssen nicht den weiten Weg nach Braunschweig oder Walldorf antreten. Das Ziel bleibt natürlich ein eigener Ligabetrieb und das Engagement der Fortuna als erster Profi- und Bundesligaverein ist ein richtiger und wichtiger Schritt auf dem langen Weg dorthin. Auf Krücken läuft’s sich auf bürokratischer Ebene leider nicht so schnell. Aber auch Engagement des DFBs über die Sepp-Herberger Stiftung zeigt, dass der Amputierten Fußball auch auf höherer Ebene seine Fußspuren hinterlässt und die Verantwortlichen dort auf dem richtigen Weg sind. Die Initiative für die Unterstützung ging vom Projekt aus und wurde vom DFB an die hauseigene Stiftung übergeben. Das Resultat ist ein Kooperationsvertrag zur Förderung des Amputierten-Fußballs, um die Sportart auf eine größere Plattform zu hieven. Diese heißt gegenwärtig Stadtspieltag und ist seit 2017 der Spielmodus in der Blindenfußball-Bundesliga. Die acht Teams (unter ihnen die große Borussia aus Dortmund und Schalke 04) spielen in einer Stadt in einem alle-gegen-alle-Modus gegeneinander. Idee des neuen Modus ist es, den Sport zu den Zuschauern zu bringen. In diesem Modus können die Amputierten-Fußballer seit diesem Jahr ebenfalls ein Spiel austragen, um über die Sportart zu informieren und sie auch bundesweit weiterzuentwickeln. Einen funktionierenden Ligabetrieb, wie er in England oder der Türkei schon seit Jahren existiert, wünscht sich Christian Heintz in den nächsten 1-2 Jahren.
Auf internationaler Ebene allerdings ist der Weg noch zu steinig. Hier sieht Heintz erst für 2032 eine Chance, in das paralympische Programm aufgenommen zu werden. Der Weltverband (WAFF) in den USA glänzt nämlich nicht mit Zuverlässigkeit. Zuletzt fehlten Dokumente, um einen entsprechenden Antrag ab das International Paralympic Committee (IPC) zu stellen. Dass die Fußballer auf Krücken zumindest auf dem Platz bei den Zweibeinern längst mithalten können, bewies Heintz zuletzt beim Champions for Charity Kick, als er seinen Gegenspieler ziemlich ins Leere laufen ließ.